Zwischen Schlagzeilen und Systemfragen
„Die Polizei hat erneut einen Mann mit einem Messer gestellt. Der mutmaßliche Täter ist polizeibekannt und hat keinen deutschen Pass.“
Solche Sätze sind längst Teil unseres medialen Alltags. Nachrichtensendungen, Onlineportale, Social Media – sie wiederholen das immer gleiche Muster: Tat, Herkunft, Gefahr, Forderung nach Strafe. Und wir? Wir konsumieren, schütteln vielleicht den Kopf, reden mit, manchmal auch mit Angst im Bauch.
Doch hinter diesen Meldungen steht mehr als nur eine Tat. Für mich – und vielleicht (also…hoffentlich) auch für dich – steckt darin die Frage: Was genau wird hier eigentlich erzählt? Genau hier setzt kritische Kriminologie an – nicht als theoretisches Gedankenspiel, sondern als Versuch, die Dinge ein Stück weit rationaler, klarer und menschlicher zu sehen. Ich nehme sie als Anstoß, genauer hinzusehen. Eine Perspektive, die nicht nur auf Schuld oder Unschuld oder gut oder böse fixiert ist, sondern auf die Bedingungen, unter denen abweichendes Verhalten und Kriminalität überhaupt entsteht.
Wurzeln und Wendepunkte: Woher kommt die kritische Kriminologie?
Kritische Kriminologie ist keine einzelne Theorie, sondern eine Wissenschaft, genauer: die Lehre vom Verbrechen, die in ihrer kritischen Ausrichtung bestehende Machtverhältnisse, Normsetzungen und kriminalpolitische Strukturen hinterfragt und untersucht. Diese spezielle Ausrichtung entstand in den 60er- und 70er-Jahren, also einer Zeit voller gesellschaftlicher Umbrüche, Proteste, Fragen nach Gerechtigkeit. Inmitten dieser Unruhe formierte sich eine neue Sichtweise: weg vom Fokus auf individuelle Schuld, hin zum Blick auf gesellschaftliche Ungleichheiten.
Diese Perspektive hat sich weiterentwickelt, unter anderem beeinflusst von Denkern wie Howard S. Becker (Labeling Approach), Stanley Cohen (Moral Panics) oder Michel Foucault (Macht und Disziplin). Ihr gemeinsamer Nenner: Kriminalität ist nicht einfach da, sie wird gemacht, reproduziert und beeinflusst – durch Gesetze, Institutionen, Medien.
Sie fragt: Wer definiert, was kriminell ist? Welche Interessen stecken dahinter? Und: Wer wird überhaupt gesehen – und wer bleibt unter dem Radar?


Ein Blickwechsel: Von Tätern und Täterbildern
Kritische Kriminologie dreht die Linse. Statt nur auf „den Täter“ zu schauen, richtet sie den Blick auf die Lebensrealitäten und den gesamten Kontext, die oft vor der Tat liegen: Armut, psychische Belastungen, soziales Umfeld, Diskriminierung, strukturelle Ausgrenzung. Das sollen keine Entschuldigungen für Verhalten sein – sondern machen es erklärbar. Und das macht einen Unterschied.
Denn die Frage ist nicht nur: Wer hat das Messer gezogen? Sondern auch: Wer wurde im Vorfeld mit welchen Themen allein gelassen oder ausgegrenzt, wer systematisch übersehen, wer immer wieder stigmatisiert?
Zugleich hinterfragt sie die Bilder, die uns ständig begegnen: der aggressive junge Mann, der „fremd“ aussieht; der „Wiederholungstäter“, der angeblich nur unsere Gesetze ausnutzt. Solche Bilder verfestigen sich und werden selten hinterfragt. Dabei wären genau diese Fragen dringend nötig.
Zwischen Sicherheitspolitik und Symbolpolitik

Die politischen Reaktionen auf gefühlte Unsicherheit sind oft reflexhaft: härtere Strafen, mehr Polizei, neue Überwachungsgesetze. Schneller. Härter. Mehr von allem. Begriffe wie „Clan-Kriminalität“, „kriminelle Ausländer“ oder „Messerkriminalität“ verbreiten sich öffentlich. Was davon bleibt, ist ein Klima der Unsicherheit und der Angst. Und die Vorstellung, dass Strafe und Härte der einzig logische Weg ist.
Doch Angst ist ein schlechter Maßstab. Durch Kritische Kriminologie wird klar, dass Kriminalität immer auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Wer nur an Symptomen herumdoktert und die Kriminellen bekämpfen und bestrafen will, übersieht die komplexen Ursachen, Dynamiken und Anteile des Kollektivs – und trägt am Ende vielleicht sogar dazu bei, dass sich die Lage verschärft.
Institutionen unter der Lupe
Es geht nicht darum, Polizei oder Justiz pauschal zu kritisieren. Doch wir müssen hinschauen: Warum treffen Kontrollen bestimmte Gruppen besonders häufig? Warum wird das eine Vergehen öffentlich skandalisiert, während das andere eher unwichtig zu sein scheint? Warum werden Menschen pathologisiert anstatt ihnen Hilfe anzubieten?
Ich habe in meiner beruflichen Praxis immer wieder erlebt: Die Wirklichkeit ist komplexer als jede Schlagzeile und jedes Urteil. Wer mit Menschen arbeitet, die straffällig geworden sind – sei es im Strafvollzug, in der Bewährungshilfe, auf der Straße oder in sozialen Diensten – kennt ihre Geschichten, die Brüche, die Anstrengungen. Und merkt schnell: Viele von ihnen hatten kaum andere Chancen.
Der kritische Blick in der Kriminologie hilft dabei, diese Komplexität nicht einfach abzutun oder zu ignorieren. Er ermöglicht uns einen genaueren Blick und Verstehen, auch um nicht vorschnell und ungerechtfertigt zu werten. Denn es geht um menschliches Verhalten und Handeln, und das ist komplex – warum akzeptieren wir es nicht endlich und wenden uns den wichtigen Fragen zu?
Zwischen Ethik und Alltag
Was heißt eigentlich Strafe? Wofür bestrafen wir? Und was erwarten wir von Menschen, denen wir gleichzeitig Hilfe verweigern und Kontrolle aufzwingen? Das sind nicht nur theoretische Fragen, sondern auch sehr praktische. Denn sie entscheiden darüber, wie unser Rechtssystem funktioniert bzw. funktionieren soll – und ob es wirklich gerecht ist.
In der Kritischen Kriminologie werden diese Fragen gestellt, ohne einfache Antworten zu liefern. Die gibt es in der Regel auch nicht. Aber sie öffnet Räume für ein anderes Denken und nähert sich Antworten an. Für mehr Reflexion. Für mehr Menschlichkeit.
Warum jetzt?
Weil der Ton rauer wird. Weil die Gesellschaft gespalten scheint – in „die da oben“ und „die da unten“, in „uns“ und „die anderen“. Weil Politik oft nur noch auf die nächste Schlagzeile und den nächsten Wähler schielt statt langfristige Lösungen zu suchen. Und weil das Thema Kriminalität dabei zur Projektionsfläche wird – für Angst, soziale Unsicherheiten, für Ärger und Unmut, für Ausgrenzung.
Gerade jetzt brauchen wir Stimmen, die nicht nur voller Emotionalität und Moral mitrufen, sondern hinterfragen. Die sich nicht im Schubladendenken verlieren, sondern Zusammenhänge aufzeigen. Ganz unaufgeregt. Die daran erinnern, dass Gerechtigkeit nicht durch Härte entsteht, sondern durch Verstehen, durch Fairness – und durch die Bereitschaft, sich Wahrheiten zu stellen.
Finally … eine Einladung
In der Kritischen Kriminologie gibt es keine einfachen Antworten. In ihr werden Fragen gestellt – dort, wo andere längst abgeschlossen und ihr Urteil gefällt haben. Nicht um zu provozieren, sondern um zu zeigen, was übersehen wird. In ihr wird der Blick auf blinde Flecken gelenkt, auf strukturelle Ungleichheiten und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Das fordert heraus – uns und unsere Annahmen, mit denen wir auf Kriminalität blicken.
Vielleicht braucht es genau das heute: weniger schnelle Urteile, mehr differenzierte Blicke. Haltung. Und die Bereitschaft, sich nicht mit vermeintlichen einfachen Erklärungen zufriedenzugeben.
Welche Brille trägst du, wenn du über Kriminalität nachdenkst?
Vielleicht ist es Zeit für eine neue.




