„Jugendgewalt eskaliert!“, „Messerattacken auf offener Straße!“, „Deutschland muss sicherer werden!“ – Solche Schlagzeilen dominieren immer wieder die Berichterstattung. Besonders Boulevardmedien scheinen kaum einen Tag zu verpassen, um alarmierende Meldungen über Jugendliche, die angeblich immer gewalttätiger werden, zu verbreiten. Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) werden als vermeintlich objektive Belege angeführt.
Doch wenn es um Kriminalität und Sicherheit geht, kommen vor allem Stimmen aus der Exekutive zu Wort: InnenministerInnen, PolizeigewerkschafterInnen, StaatsanwältInnen. Menschen, deren Aufgabe es ist, Ordnung durch Kontrolle und Strafe aufrechtzuerhalten. Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit wird durch diese einseitige Perspektive massiv verschoben. Sicherheit wird propagiert – aber zu welchem Preis? Die Freiheit alternativer, kritischer Perspektiven bleibt oft auf der Strecke.
Selektive Expertenkonstruktion: Sicherheit dominiert den Diskurs
Ein zentrales Problem zeigt sich besonders bei der Debatte über sogenannte Jugendkriminalität – ein Begriff, der in der Fachwelt bewusst als „Jugenddelinquenz“ bezeichnet wird, um stigmatisierende Wirkungen zu vermeiden. Denn wer Delinquenz nur als Bedrohung begreift, verliert aus dem Blick, dass sie oft in einem komplexen sozialen und gesellschaftlichen Kontext entsteht. Was medial dabei fast nie thematisiert wird: Welche delinquenzfördernden Faktoren wirken eigentlich? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen tragen dazu bei, dass junge Menschen kriminelles Verhalten zeigen? Und wie passt es zur verbreiteten Dramatik, dass die Zahl junger Menschen demografisch überhaupt rückläufig ist?
Reaktionen auf solche Themen erfolgen in der medialen Logik häufig nach demselben Schema: „Straftat ist passiert“ – „Das geht gar nicht“ – „Wir brauchen härtere Konsequenzen oder neue Instrumente“. Diese verkürzte Abfolge lässt keinen Raum für Ursachenanalysen, Reflexion oder langfristige Prävention. Die Vorstellung von Sicherheit wird damit auf Repression reduziert – auf Kosten einer offenen, freiheitlichen Diskussionskultur.

Medien haben großen Einfluss darauf, welche Stimmen als relevant gelten. Besonders wenn es um Kriminalität geht, werden häufig Sicherheitsakteure bevorzugt, während präventive, soziale und wissenschaftliche Perspektiven systematisch unterrepräsentiert sind.
Besonders auffällig: Jugendliche selbst – also genau die Gruppe, über die so häufig gesprochen wird – erhalten in diesen Debatten kaum eine eigene Stimme. Ihre Perspektiven, Erfahrungen, Beweggründe und Sichtweisen werden ignoriert, obwohl sie im Zentrum der Diskussion stehen.
Diese selektive Expertenkonstruktion führt aus meiner Sicht zu mehreren problematischen Konsequenzen:
- Monopolarer Diskurs: Durch die mediale Fokussierung auf VertreterInnen der Strafverfolgung entsteht der Eindruck, Kriminalität ließe sich vor allem mit Härte und Kontrolle bekämpfen. Begriffe wie „Jugendkriminalität“ und „Messergewalt“ werden oft isoliert betrachtet, ohne soziale Ursachen oder Alternativen einzubeziehen. Präventive und resozialisierende Ansätze werden damit zurückgehalten. Sicherheit wird als absoluter Wert dargestellt, während Freiheit als störender Faktor erscheint.
- Bestätigung von Vorurteilen: Alarmierende Aussagen von StrafverfolgerInnen erzeugen ein verzerrtes Bild von Kriminalität. Besonders wenn PKS-Zahlen selektiv oder aus dem Kontext gerissen dargestellt werden, entsteht der Eindruck einer dramatischen Eskalation. Häufig wird nicht darauf hingewiesen, dass diese Daten durch eine bestimmte Sicherheitslogik interpretiert werden. Raum, sich kritisch mit dieser Interpretation auseinanderzusetzen, wird nicht gewährt.
- Verzerrte Wirklichkeitsdarstellung: Schlagzeilen über angeblich explodierende Jugendkriminalität in Deutschland lassen uns glauben, dass nur repressive Maßnahmen wirksam sind. Perspektiven derer, die tagtäglich mit Jugendlichen arbeiten und sich intensiv mit den Themen dazu befassen – SozialarbeiterInnen, PädagogInnen, KriminologInnen – werden ignoriert. Ihre Stimmen stehen für Freiheit, Verständnis und Prävention, während die Sicherheitslogik mit Härte und Kontrolle wirbt.
- Politische Instrumentalisierung: Medienkonstruktionen werden gezielt genutzt, um politische Narrative zu formen. Besonders konservative InnenministerInnen nutzen diese Plattformen, um ihre „Law and Order“-Politik zu legitimieren. Dass viele Medien diese Perspektiven unkritisch reproduzieren, verstärkt den Eindruck, dass Sicherheit der einzige Weg ist. Doch diese Konstruktion schränkt die Freiheit anderer Diskurse massiv ein.
- Ignoranz gegenüber interdisziplinären Ansätzen: Kriminalität ist ein hochkomplexes Phänomen. Soziale, psychologische und pädagogische Ansätze sind ebenso notwendig wie strafrechtliche. Und vielleicht sind sie für die Gesellschaft sogar noch bedeutsamer: Während das Strafrecht von Fachleuten in Justiz und Exekutive umgesetzt wird, können soziale, psychologische und pädagogische Aspekte auch von Eltern, Schulen, Vereinen oder Nachbarschaften aktiv gestaltet und beeinflusst werden. Hier liegt enormes Potenzial – für positive Einflussnahme, Prävention, für Teilhabe, für eine gemeinschaftliche Verantwortung. Doch diese Perspektiven werden kaum berücksichtigt. Der Diskurs wird durch polarisierende Aussagen dominiert, was die Freiheit kritischer und differenzierter Analysen unterdrückt.
Freiheit oder Sicherheit? Die Macht der Medienkonstruktion
Medien bestimmen also zu einem großen Teil, welche Themen als relevant gelten und welche Perspektiven Gehör finden. Sicherheit wird bevorzugt, Freiheit als eher unwichtig oder störend betrachtet und damit verdrängt. Die mediale Konstruktion von Kriminalität verzerrt nicht nur die Realität, sondern beeinflusst auch politische Entscheidungen. Maßnahmen werden auf Basis medial erzeugter Stimmungen getroffen anstatt auf fundierten, multiperspektivischen Analysen. Besonders in der Berichterstattung über Jugendkriminalität wird dies deutlich: Die einseitige Expertenkonstruktion lässt die öffentliche Wahrnehmung einseitig und problematisch erscheinen.
Ein Aufruf zur Reflexion
Was würde eigentlich passieren, wenn mehr Fachleute mit echter Erfahrung zu Wort kämen? Weißt Du, welche Projekte es im sozialen Bereich gibt? Wie viele niedrigschwellige Angebote, kreative Präventionsansätze, aufsuchende Jugendsozialarbeit, Modellversuche zur Gewaltprävention? All das findet im öffentlichen Diskurs kaum Platz, obwohl diese Arbeit täglich vor Ort geleistet wird. Wer über Jugenddelinquenz spricht, sollte auch die realen Kontexte kennen, in denen sie entsteht – und in denen wirksam gegengesteuert wird.
Die Frage nach Freiheit und Sicherheit ist immer auch eine Frage der Definitionsmacht. Was würde passieren, wenn mehr SozialarbeiterInnen, PädagogInnen oder KriminologInnen zu Wort kämen? Menschen, die Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen, sich die Mühe machen zuzuhören, zu verstehen und gemeinsam mit den Betroffenen tragfähige Lösungen entwickeln.
Welchen Preis zahlen wir, wenn Sicherheit immer vor Freiheit geht? Welche Perspektiven fehlen Dir in den Medien? Und warum glaubst Du, dass sie fehlen? Lass uns darüber reden.
Hast Du ähnliche Beobachtungen gemacht oder andere Perspektiven dazu?
Schreib mir gerne Deine Gedanken!



